Ohne Tod kein Leben

     


    Mit spitzer Feder …


    (Bild: zVg)

    Immer Ende August, wenn es langsam Herbst wird, ruft mich die Vergänglichkeit. Bilder wie Efeu-bewachsene Friedhofmauern, Engel-Statuen, grosse alte Bäume, Grabsteine und viele Gedanken und Erinnerungen an Menschen, die längst nicht mehr unter uns sind, drehen sich wie ein Karussell der Retroperspektive in meinem Kopf. Dann beschäftigt mich auch jedes Jahr wieder die Endlichkeit – meine Vergänglichkeit. Dies erinnert mich daran, dass das Leben zerbrechlich ist und gerade deshalb schön und kostbar. Ein Tanz mit der Endlichkeit und der Vergänglichkeit sind jeweils auch die Besuche bei meinem Vater im Pflegeheim. Er hat Alzheimer. Viele, die sich mit Demenz nicht auskennen, denken, er kann sich einfach an viele Dinge nicht mehr erinnern. Aber die Krankheit ist viel mehr als das. Körper, Geist, Erinnerungen, Emotionen – alles, was ihn ausmacht, verschwindet einfach und zerfällt zu Sternenstaub. Die Seele löst sich aus dem lebenden Menschen. Meinem Vater kommt sein Leben abhanden. In diesem Moment wird mir bewusst, dass unsere Lebenszeit gestundet ist und das Wissen darum vermehrt ihre Kostbarkeit.

    Seine Augen strahlen vor Freude, wenn ich meinen Vater besuche, doch hängt auch das Damoklesschwert der Endlichkeit über ihm. Uns bleibt nur, die Gegenwart von Herzen zu geniessen. Nicht ist mehr wichtig, als die gemeinsame Zeit, das Zusammensein – auch, wenn mein Vater nicht mehr gut und klar reden kann. Unsere nonverbale Kommunikation reicht völlig. Er und auch ich sind dankbar für diese Momente, denn im unmittelbaren Jetzt steckt eine unglaubliche Kraft.

    Immer präsent und in Lauerstellung ist der Tod. Doch wie ich während dieser Begleitung meines Vaters auf seinem letzten Lebensabschnitt feststelle, ist der Tod uns wohlgesinnt. Das Sterben ist ein zutiefst würdevoller Prozess. Es ist ein sanftes Übergleiten in die geistige Welt – ein letzter Tanz mit dem Leben. Noch eine Drehung und ehe wir uns versehen, haben wir einen neuen Tanzpartner – den Tod. Spätestens dann ist alles gut. Wir tauchen ein in einen überirdischen Frieden, eine Ruhe, in goldglänzendes Licht und die Energie der Liebe erfasst unsere Seele.

    Ich habe keine Angst vor dem Tod und mein Vater auch nicht, wie er mir kürzlich sagte. Der Tod ist mein Freund – denn er gehört zum Leben und das Leben zu ihm. Oder anders ausgedrückt: Ohne Tod kein Leben. Fast alle werden wir alt und gewiss alle landen einmal in den Armen des Todes. Es liegt vielleicht an meinem unerschütterlichen Glauben an die göttlichen Mächte, an das Universum und diese gute Kraft, die uns trägt. Diese tiefe Verbundenheit bietet der Angst wenig Raum und lässt so Vertrauen wachsen. Und Vertrauen ist etwas, gegen das die Angst machtlos ist. Nach dem Tod kommt etwas. Ich muss es nicht sehen und beweisen. Aber ich spüre es. Es gibt Momente, die so magisch sind – da weiss ich: Das ist nicht alles gewesen, sondern der Anfang ist das Ende und das Ende ist der Anfang. Meine Seele geht auf eine neue Reise. Die Seele ist unsterblich.

    Deshalb gehört auch das Altern zum Leben. Ich verstehe diejenigen Menschen nicht, die mit aller Macht gegen das Altern ankämpfen. So sagt der weltweit führende Altersforscher David Sinclair. «Altern ist eine Krankheit und wir können sie behandeln.» So ein Blödsinn. Diese Anhänger der sogenannten Longevity-Community sind aus meiner Sicht alles oberflächliche Egoisten, die nicht begriffen haben, was das Wesentliche im Leben ist. Die Seele ist unsterblich – das reicht. Alles andere ist der Versuch, sich in Technik zu flüchten und sich nicht mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Es ist doch so: Wenn wir den Tod ausschliessen, verlieren wir auch das Leben.

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

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